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Maria Flaig / Bernadette Valentin-Mousli:

Begegnungen auf dem Weg zu weiblicher Freiheit
Über Feminismus und Gestalttherapie

Aus der Gestaltkritik

Gestaltkritik - Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-Instituten Köln und Kassel
Gestaltkritik (Internet): ISSN 1615-1712

Themenschwerpunkte:

Gestaltkritk verbindet die Ankündigung unseres aktuellen Veranstaltungs- und Weiterbildungsprogramms mit dem Abdruck von Originalbeiträgen: Texte aus unseren "Werkstätten" und denen unserer Freunde.

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 Hier folgt der Abdruck eines Beitrages aus der Gestaltkritik (Heft 2-1998):

Foto: Maria FlaigFoto: Bernadette Valentin-Mousli
(
Maria Flaig und Bernadette Valentin-Mousli)

 

Maria Flaig / Bernadette Valentin-Mousli:

Begegnungen auf dem Weg zu weiblicher Freiheit
Über Feminismus und Gestalttherapie

August 1997:

Bernadette: Wir, Maria und ich, Bernadette, sitzen am Teich im Garten. Die erste Brut junger Schwalben diesen Jahres übt den Tiefflug über dem Wasser, oft noch ungeschickt; die zweite Brut schreit laut nach Futter. Auf dem Mars erkundet das erste von Menschen dorthin gebrachte Fahrzeug die Oberfläche, und auch das bewegt mich.

Würde ein Mann einen Text über Theorie der Gestalt-Therapie so beginnen?

Ich als Frau hätte mich keinesfalls getraut, so "irrelevant" zu reden und schon gar nicht zu schreiben - vor meinen Jahren auf dem Gestaltweg. Meine Selbstunterstützung in allen drei Funktionen des Selbst ist dabei ständig gewachsen, mein früher so prekäres Frau-Sein ist rund und sicher geworden.

Ich bin jetzt 67 1/2 Jahre alt/jung. Den Gestaltweg habe ich mit 45 Jahren begonnen, neben einer mehrjährigen Therapie bei einem Psycho-Analytiker. Nach 7 1/2 Jahren hatte ich so viel Kontakt zu meinen Bedürfnissen = Es-Funktionen und so viel Stärke in meinen Ich-Funktionen, daß ich die Großstadt Hamburg verlassen konnte und in die Stille und Weite der Elbmarsch auswandern konnte. Die nächsten 7 1/2 Jahre brachten die Ausweitung in die Ausbildungs- und Supervisionsarbeit. Die Herausforderung war groß, und ich hatte viel zu arbeiten in meinen Persönlichkeits-Funktionen. Die letzten 7 1/2 Jahre bin ich bewußt zur Feministin geworden, in dem Sinn, daß ich die Differenz der Geschlechter und die Differenz von Frau zu Frau anerkenne. Da für mich die Phänomenologie der Boden der Gestalt-Theorie ist, erscheinen mir Differenzen und Differenzierungen natürlich.

Maria: Ich bin halb so alt wie Du. Und zur Feministin geworden bin ich nie. Schon als kleines Mädchen habe ich die allgemeine Höherbewertung des Männlichen und des Mannes bzw. die Abwertung des Weiblichen und der Frau gespürt oder intuitiv erfaßt... und mich lange geweigert, was ich da spürte, für wahr zu nehmen.

Als mir erklärt wurde, daß eben nicht Frauen besser kochen als Männer - ich hatte bis dahin noch keinen Mann kochen sehen, und Vaters Lobesworte ob der Kochkünste meiner Mutter schmeichelten allsonntäglich meinen Ohren -, sondern ganz im Gegenteil Männer die weltbesten Köche seien, wie überhaupt an der Spitze von allem Männer stünden - da wollte ich das tatsächlich nicht glauben. Widersprach es doch jeder Offensichtlichkeit meiner Erfahrungswelt! Wenn schon so viele Frauen kochten und eigentlich, so weit ich blicken konnte, nur Frauen kochten, warum waren dann nicht sie die besten Köchinnen? Wie kam es, daß ihnen die Spitze, die Erstklasse, der Ruhm von Männern abspenstig gemacht wurde? Wie konnte das passieren? Irgendetwas war hier grundlegend ungerecht. Als älteste Schwester war ich meinen drei jüngeren Brüdern lange überlegen im Denken und Reden, an Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Auch in der Schule waren wir Mädchen fitter und fixer als die Jungs. Völlig unverständlich war mir daher, daß, wenn schon ein

Geschlecht dem anderen überlegen sein sollte, dies ausgerechnet die Männer sein sollten? Was geschieht da unterwegs?

Als Sinnbild dessen, was in der männlichen Erbfolge mit Frauen geschieht, erschien mir der Verzicht der Frau auf den eigenen Namen, ihren Geburtsnamen, bei der Verbindung mit einem Mann. Ich befragte meine Mutter darüber, wie es ihr ergangen war, den eigenen Namen, der sie mit ihrer Mutter verband, aufzugeben und stattdessen von einem Tag auf den anderen genannt zu werden wie die Mutter ihres Mannes. Sie habe darüber geweint, antwortete meine Mutter, und sich dann daran gewöhnt.

Ich suchte das Gespräch, um meine Empörung teilen oder relativieren zu können, rang nach Worten und wurde eine anstrengende Gesprächspartnerin.

Da niemand in meiner Umgebung den Skandal als solchen zu erkennen schien, ging ich mit der uneingestandenen Hoffnung schwanger, es möge sich aller Offensichtlichkeit zum Trotz vielleicht doch um eine Sinnentäuschung meinerseits handeln oder um ein vorübergehendes Mißverständnis, das sich in Wohlgefallen auflösen würde, wenn es darauf ankommen würde (Eher das Gegenteil sollte der Fall sein.)

Als ich mit Anfang 20 an die Universität kam und feministischem Gedankengut begegnete, empfand ich eine tiefe Erleichterung: Hier war beschrieben, analysiert, zu einer kritischen Gesellschaftstheorie verdichtet, was mein wortloses Unbehagen mir seit langem bedeutete.

Wie bist Du dazu gekommen, Dich als Feministin zu begreifen?

Bernadette: Zuerst haben meine persönliche Entwicklung und die Stärkung meiner Selbst-Unterstützung dazu geführt, daß ich Frauen nicht mehr nur als mögliche Rivalinnen in Richtung Männer ansah. Dann konnte ich langsam meine Abwehr gegen gleichgeschlechtliche Neigungen aufgeben. Meine Liebe zu Gleichaltrigen und zu jüngeren Frauen wurde freigesetzt, und nun durfte auch erotische, wenn auch keine sexuelle Energie mitschwingen. Das war für mich etwas ganz anderes als meine Liebe zu und Verehrung für Mutter-Gestalten.

Hinzu kamen mein Wechsel von einem großbürgerlichen sozialen Umfeld in die freiere Welt der Humanistischen Psychologie und last but not least meine Wechseljahre als Frau.

Dann wurde ich durch Kontakte mit jüngeren und jungen Frauen zum Lesen angeregt. Ich fing an mit Christina v.Braun "Nicht - Ich", entdeckte die französischen Feministinnen und landete bei der Libreria delle donne di Milano: WIE WEIBLICHE FREIHEIT ENTSTEHT - Eine neue politische Praxis (Orlanda Frauenverlag) und DAS PATRIARCHAT IST ZU ENDE - ES IST PASSIERT - NICHT AUS ZUFALL (Göttert Verlag).

Maria: Du hast vorhin die Phänomenologie als den Boden der Gestalt-Theorie bezeichnet. Dieses Bild gefällt mir gut. Dieser phänomenologische Boden ist es, der die Gestalt-Theorie so vielversprechend und aufregend macht für mich als Frau, die ich die weibliche Freiheit suche. Es ist ein Boden, auf dem weibliche Freiheit wachsen kann. Einen wesentlichen Hintergrund sowohl meiner Hinwendung zur Gestalt-Therapie als auch meiner Begegnungen mit Dir, Bernadette, bilden meine Überlegungen und theoretischen Arbeiten zur Mutter-Tochter-Beziehung, die ich in meiner Diplomarbeit zusammenfaßte. Ich erkannte, daß die abendländische Kultur und Gesellschaft auf dem Ausschluß der Frauen, der Entwertung des Weiblichen und der Verleugnung der Geschlechterdifferenz beruht und dies einer Entwurzelung des Weiblichen gleichkommt, einer Kolonialisierung oder Verpflanzung auf männliches Territorium. Dies bewirkt, daß das Weibliche von seinen Quellen und Potentialen abgeschnitten, seiner Fülle und Kraft beraubt, in seinem Eigen-Sinn gebrochen ist. Frauen ist damit Macht (in dem Sinne von Eigen-Mächtigkeit) und Autorität genommen.

Die Phänomenologie ist mir Einladung, mich auf die Suche nach meinem eigenen Boden zu begeben. Und sie ist zugleich ein Weg, eine Methode, wie ich meinen Boden wiederfinde. Die Phänomenologie ermöglicht mir Aufrichtigkeit und persönliche Authentizität und fordert sie von mir! Mit "Aufrichtigkeit" meine ich, mich vom Boden meines Fühlens und meiner Wahrnehmung aus und entlang meiner inneren Stimmigkeit aufzurichten, mich auf das zu stellen und von dem auszugehen, was ich fühle und wahrnehme, anstatt mein Werden und Sein nach fremden, äußerlichen Maßstäben auszurichten und mich auf einen Boden zu drängen, der viel Gift und wenig Nahrung für mich hat. Frauen zu begegnen, die von ihrem Boden ausgehen und ihrer Eigen-Art und ihrem Eigen-Sinn folgen, ist für mich immer wieder eine Herausforderung und ein Geschenk. Für diese Möglichkeit, das "Mehr" anderer Frauen anders als mit Neid, Konkurrenz, Minderwertigkeitsgefühlen, Arroganz oder Ignoranz zu betrachten, bin ich sehr dankbar, denn diese Gefühle wirken wie Gift, das mich wieder schwächt und von mir selbst wegtreibt, hin auf patriarchales Territorium. Und auch für diese neue Beziehungsqualität unter Frauen bereitet die Phänomenologie den Boden.

Bernadette: Das beschreiben die Frauen der Libreria delle donne di Milano. Sie haben - auch in Zusammenarbeit mit den Philosophinnen der DIOTIMA-Gruppe - die These erarbeitet, daß Frauen durch die freie Interpretation der weiblichen Differenz ihre Wirklichkeit konstruieren im Hier-und-Jetzt in Beziehungen zu anderen Frauen. Im gleichen Zeitraum der letzten fünfzehn Jahre ist das Dialogische Prinzip von Martin Buber mehr und mehr in die Theorie der Gestalttherapie integriert worden. Laut Buber füllen Ich und Du ein gemeinsames Dazwischen, und jede von uns geht verändert aus der Begegnung hervor. In dem Moment, in dem ich dich definiere, mache ich Du zum Es - und existentielle Begegnung kann nicht stattfinden.

Da schließt sich für mich ein Kreis zwischen feministischem und heutigem gestalttheoretischem Gedankengut.

Die Mailänder Frauen haben den Begriff des AFFIDAMENTO gefunden, die liebevolle Bestätigung und Anerkennung einer jüngeren Frau durch eine Ältere: die symbolische Wiedergeburt. Und mir wurde bewußt, daß ich genau das schon als junge Frau mit einer "Wahlmutter" gelebt hatte - und daß es diese spezielle Qualität des Lernens für mich nur mit anderen Frauen gibt.

Heute können manche Frauen ihre Angst vor dem Altern und dem Alt - Sein durch mein Da - Sein aufgeben.

Maria: Für mich als junge Frau ist dies von einem Wert, der über das hinausgeht, was ich mit Worten fassen kann. Mich auf Dich und Dein Da-Sein beziehen zu können, verleiht nicht allein meinem Altwerden, vor dem ich - noch! - keine Angst habe, eine andere Bedeutung, sondern meiner gesamten Existenz. Es ermöglicht mir ein Stück innerer Freiheit.

Die Mailänderinnen haben mir zu einem fundierteren Begreifen meiner Sehnsucht nach Verbindung mit anderen Frauen verholfen: Sie halten die Schwäche der sozialen Beziehungen unter Frauen für einen der Hauptgründe für die Herrschaft von Männern über Frauen. Umgekehrt würde jede Beziehung zwischen Frauen, insbesondere die Mutter-Tochter-Beziehung, durch ihre Unterordnung unter die Beziehung zum anderen Geschlecht fundamental schlecht, d.h. unfähig, einer Frau in Bezug auf ihr Frau-Sein Wert zu verleihen. Es gehe für Frauen darum, eine Kultur der Ungleichheit zu entwickeln, in der sie ohne Angst leben können, weniger zu sein als eine andere, und sich in ihrer Wertversicherung auf den Wert der anderen stützen können. Die Anerkennung und Nutzung der Verschiedenheit unter Frauen sei das sine qua non eines autonomen weiblichen Maßstabs und Bezugssystems. Die Disparität nämlich trägt eine symbolische Kraft in sich.

In unserer sozialen Ordnung sind Frauen auf die männliche Vermittlung zu sich und zur Welt angewiesen. Das bedeutet, um etwas über ihren Wert und ihren Status im gesellschaftlichen Gefüge zu erfahren, wendet sich die Frau an einen Mann. Weibliche Freiheit setzt voraus, daß Frauen sich auf der Ebene des Symbolischen wiedererschaffen. Dies beginnt mit der Suche nach Bezugspunkten, die von Frauen verkörpert werden, nach "Beziehungen des affidamento": Eine Frau vertraut sich einer anderen Frau an, die für sie ein "Mehr" verkörpert, und wendet sich an sie als Vermittlungsinstanz zur Welt. Durch den Bezug auf eine andere Frau, die eben durch den Akt des Sich-auf-sie-Beziehens autonom wird, und durch die Vermittlung dieser "autonomen Mutter" vollzieht sich die "symbolische Geburt", die Einsetzung der Mutter-Tochter-Beziehung auf symbolischer Ebene. Die Beziehung von Frau zu Frau wird zum Fundament einer gemeinsamen Freiheit, der Freiheit von der männlichen Vermittlung.

Bernadette: An dieser Stelle gehört für mich eine Bemerkung dazu, wie ich den Begriff "affidamento" kennengelernt habe. Du warst als Teilnehmerin in einem Mal-Seminar von mir. Aus der Arbeit mit einem Ölbild, das eine jüngere Frau gemalt hatte, wuchs in unser Dazwischen im Buberschen Sinn unser beider Frau-Sein hinein. Nach der Arbeit fragte ich Dich als Außenstehende, ob ich zu konfluent gewesen sei. Du erzähltest mir von Deiner Diplom-Arbeit und dem darin beschriebenen affidamento, und ich durfte Deine Arbeit lesen. Damit begann für mich eine neue Freiheit im Zusammensein und in der Arbeit mit Frauen: Endlich konnte ich meine "gesunde Konfluenz" bejahen.

Maria: Ich lernte Dich im Rahmen meiner gestalttherapeutischen Weiterbildung kennen als Leiterin eines zweiwöchigen Kompakttrainings. Deine Themen, "Energiewahrnehmung" und "Tiefenökologie" zogen mich an. Und ich war neugierig auf Dich: Frauen, die ich schätzte, nannten Dich eine starke, große Frau.

In der Anfangsrunde sagte ein Mann zu Dir: "Du bist eine alte Gifthexe." Du antwortetest: "Alt - ja; Hexe - Ja, eine Hexe ist eine freie Frau; giftig - nein! Diese Bezeichnung weise ich ab und gebe sie Dir zurück!"

Du hast das Recht, das sich dieser Mann mit aller Selbstverständlichkeit genommen hat, Dich mit einem Namen zu belegen und zu definieren, als Anmaßung zurückgewiesen, mit einer Autorität, die nicht zur Debatte steht.

Diese Erfahrung hatte für mich symbolische Potenz: Damit, daß Du als "ältere" Frau, als Frau also, die für uns Gruppenteilnehmerinnen ein "Mehr" verkörperte, Deine Person und unseren gemeinsamen Raum gegen männliche Vereinnahmung verteidigst, setzt Du für uns "jüngere" Frauen eine Alternative zum "Weiblichen Schicksal" in die Welt, Du realisierst die Möglichkeit und gibst Erlaubnis, weibliche Autorität und Integrität gegen männliche Verfügungs- und Definitionsmacht zu bewahren.

Im Laufe der nächsten Jahre suchte ich immer wieder die Begegnung mit Dir und nahm an mehreren Seminaren von Dir teil. Du bemerktest mit Sorge, wie ich mich als junge, begeisterte Berufsanfängerin erschöpfte und meine Substanz auf's Spiel setzte in einer Arbeit, die mir zutiefst am Herzen liegt. Du drücktest Deine Sorge um mich aus und bedeutetest mir die Qualität Deiner Sorge mit den Worten: "Ich habe Dich als Tochter meines Herzens angenommen." Mich berührten Deine Sorge und Dein Mitgefühl. Du hast mir Dein "Mehr" zur Verfügung gestellt, damit ich mich auf meinem Weg hinein in die Welt darauf beziehen, es ins Spiel einbringen kann. Das ist es, wovon die Mailänderinnen sprechen. Immer mehr nun kann ich die Sorge für mich selbst empfinden und einen achtsameren, liebevolleren Umgang mit mir wagen.

Trotz dieser wichtigen Erfahrung mußte ich all meinen Mut zusammennehmen, Dir meine Diplomarbeit zu schicken und Dich darum zu bitten, sie zu lesen. Ist sie doch Ausdruck meines ganzen, ungebändigten Wunsches, als Frau mich in die Welt einzubringen und da zu sein mit jeder Faser meiner leiblich-sinnlich-geistigen Existenz, mit all meiner Leidenschaft, Intelligenz und Kreativität. Eine Ungeheuerlichkeit für eine Frau, schallt es mir aus jeder Körperzelle entgegen. Und doch kann und will ich diesen Wunsch nicht verraten, es hängt mein Leben daran in einem symbolischen Sinn, und ich brauche dazu andere Frauen.

Hat sich Deine Arbeit als Gestalt-Therapeutin verändert durch Deine feministische Einstellung?

Bernadette: Ja. Mir war schon immer die Belebung der Es-Funktionen sehr wichtig und die entsprechende Stärkung der Ich-Funktionen, damit Menschen ihre Bedürfnisse wahrnehmen und dann auch befriedigen können. Heute arbeite ich gerade mit Frauen mehr und länger im Nachkontakt: in den Persönlichkeits-Funktionen. Sich neu zu definieren, bedarf der Sprache, die überwiegend männlich geprägt ist. Frauen brauchen Zeit, ihre Neu-Definitionen zu ertasten, zu erfühlen, zu schmecken, um ihre ureigenen Worte zu finden oder zu erfinden, bevor sie sich diese dann einverleiben. Zusätzlich erkenne ich heute die gemeinsame Belastung an, die wir Frauen auch heute noch in einer Männerwelt tragen.

Maria: Diese Belastungen, die - so meine ich - Folge des Ausschlusses und der Abwertung von Frauen sind, zu realisieren, als wirklich anzuerkennen, war für mich eine Notwendigkeit, um mich in der Welt zurechtzufinden, und nicht verrückt oder völlig blind zu werden (ich bin stark kurzsichtig). Manche dieser Belastungen sind mittlerweile ganz

offensichtlich und werden allgemein als Realität anerkannt. Andere aber sind so subtil in unsere Normalität eingelassen, daß sie kaum auffallen und immer wieder geleugnet, zugedeckt oder als bedeutungslose Bagatelle abgetan werden. Das Leiden, das sie verursachen, ist dann wie unsichtbar, nur schwer begreifbar und in Worte zu fassen. Ein Beispiel hierfür ist die Sprache selbst:

Die Sprache ist wie ein dichtes Netz gut ausgebauter und vielbefahrener Autobahnen und Schnellstraßen, die Männer und männliche Interessen, Erfahrungs- und Sichtweisen miteinander verbinden und bedeuten. In der Sprache greift die Frau zwangsläufig auf eine männliche Vermittlung zurück.

Zwar gibt sich unsere Sprache geschlechtsneutral, sie gibt vor, von dem jeweiligen Geschlecht der angesprochenen oder sprechenden Person zu abstrahieren. Tatsächlich ist das sprachliche Subjekt und das Erkenntnissubjekt ein männliches: der Mann in seiner männlichen Geschlechtszugehörigkeit. Ich als Frau bin zwar oft mitgemeint, z.B. wenn von den "Studenten", den "Gestalttherapeuten", den "Bürgern" gesprochen wird. In solcher Rede und Anrede wird jedoch von meiner Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht abgesehen, und ich muß, um mich angesprochen und gemeint zu fühlen, von meiner Weiblichkeit absehen. Dieses Absehen von der weiblichen Geschlechtlichkeit ist in die Sprache eingegossen und wird durch die Benutzung der Sprache beständig reproduziert.

Männer sind angesprochen kraft und unter Anerkennung ihrer Geschlechtszugehörigkeit und ihres geschlechtlich spezifizierten Körpers, Frauen allenfalls trotz, in Absehung, unter Vernachlässigung ihrer Geschlechtszugehörigkeit und ihres geschlechtlich spezifizierten Körpers.

Ich bin überzeugt davon, daß diese tägliche "Übung" für Frauen nicht ohne Wirkung bleibt und tiefgreifende - individuelle und kollektive - Folgen für das Lebensgefühl und die Lebensrealität von Frauen hat.

Mir wurde die Belastung, ja Zumutung, die die männliche Sprache für mich als Frau bedeutet, erst wirklich spürbar und begreifbar, als ich mir Frauenzusammenhänge schuf und wir anfingen, einander als Frauen anzusprechen. In ihrer Rede gab jede sich selbst und die andere als Frau zu erkennen. Wir verliehen unserer Geschlechtlichkeit, unserer körperlich-seelisch-geistigen Realität in der Sprache Wirklichkeit und Anerkennung, Bestätigung. Nicht, daß wir das so geplant hätten. Es geschah einfach aus dem Wunsch heraus, uns als Frauen wahr - zu-nehmen. Dies war mir eine Eröffnung! - hin zu einem volleren Da - Sein und Mich - angesprochen-Fühlen: Jede Rede und Anrede anerkennt meine leibliche Existenz und meinen Platz - in der symbolischen Ordnung, in der Welt. Mein Wunsch und meine Fähigkeit, Frauen zu achten und wertzuschätzen, wuchs.

Bernadette: Und genau an diesem Punkt kann ich als Gestalt-Therapeutin achtsam sein, nicht nur, indem ich Frauen unterstütze, ihre Begriffe aus ihrem inneren Erleben zu begreifen und zu formen, sondern auch, indem ich ihnen keine Worte nahelege. Gerade, wenn eine Frau lange zögert, bin ich in Versuchung, ihr "auf die Sprünge" zu helfen. Damit füttere ich möglicherweise ein Introjekt und außerdem übernehme ich dann die Macht der Definition. Zurück zu Buber: ich mache mein Gegenüber vom Du zum Es.

Maria: Die phänomenologische Beschreibung ist etwas, was mich immer wieder auf's Neue beglückt. Dabei zu sein, zu begleiten, Zeugin zu sein, wenn eine Frau ihre Worte findet für ihr unmittelbares Erleben im Hier-und-Jetzt, für ihr leiblich-sinnliches Wahrnehmen und Erkennen im Augenblick, erfüllt mich mit Dankbarkeit und Staunen. Es sind dies heilige Momente für mich: Schöpfungsakte. Ja, die phänomenologische Betrachtung und Beschreibung ist für mich ein Schöfpungsakt, in dem ich als erlebende und erkennende Person mich und die Dinge und Figuren, mit denen ich in Berührung bin, erschaffe. Und, die phänomenologische Beschreibung setzt voraus oder bewirkt, daß ich als erlebende und beschreibende Person mich als Subjekt anerkenne und erlebe, als schöpferisches, mich selbst und die Welt erschaffendes Subjekt.

Beides, erstens sich als Subjekt, d.h. als Autorität des eigenen Erlebens und Erkennens, zu setzen und zweitens sich und die Welt aus dem eigenen Blick, von sich selbst, vom eigenen leiblich-sinnlichen Wahrnehmen ausgehend zu erschaffen, hat für Frauen einen politischen Wert.

Bernadette: Sag mehr über den politischen Wert, den Du siehst.

Maria: Männer haben sich die Definitionsmacht angeeignet und sie monopolisiert. Frauen leben in einer Gesellschaft, deren Rahmenbedingungen und Institutionen wie Gesetzgebung, Religion und Philosophie, Wissenschaft, Technik und Industrie, Kunst, Handel und Geschichtsschreibung seit vielen Hunderten von Jahren von Männern und entsprechend ihren Ideen und Idealen gestaltet ist.

Das Vertrackte daran ist: Das Machtverhältnis von Männern über Frauen und die Formen der Abwertung und Diskriminierung von Frauen haben eine so lange kulturelle und gesellschaftliche Tradition, daß sie auch Bestandteil des "normalen", alltäglichen Wahrnehmens, Empfindens, Denkens und Tuns von Männern und Frauen geworden sind. Es bedarf einer Schulung, eines Selbstreflexions- und Lernprozesses, um unsere Wahrnehmungsantennen zu sensibilisieren für die "ganz alltägliche" geschechtsspezifische Entwertung und Ausgrenzung.

Frauen, die das Patriarchat verlassen, d.h. es nicht länger mittragen und mitreproduzieren wollen, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich und die Welt neu zu erschaffen. Es gibt keine weibliche Tradition, auf die sie sich berufen oder auf die sie zurückgreifen könnten.

Daher ist der Akt, von sich selbst ausgehend und möglichst unvermittelt, d.h. ohne allgegenwärtige männliche Vermittlung, zu erleben, zu erkennen und zu beschreiben, ein Akt von höchster politischer Brisanz für Frauen. Wo immer eine Frau dies tut und in dem Maße, in dem sie es tut, ist das Patriarchat am Ende in dem Sinn der Mailänderinnen: es fungiert nicht mehr als Ordnungskategorie im Kopf der Frau. Die phänomenologische Erkenntnis ist ein freier Schöpfungsakt. Daher führt der Gestaltweg Frauen zu ihrer Kreativität und Schöpfungskraft. Und das ist der Punkt, wo sich in mir feministisches und gestalttheoretisches Gedankengut treffen.

Bernadette: Und noch eine dritte Denkrichtung mündet hier ein: der amerikanische Ökofeminismus. Ich möchte an dieser Stelle einige der Definitionen von Macht beitragen, welche die amerikanische Öko-Feministin Starhawk gleich im ersten Kapitel ihres Buches MIT HEXENMACHT DIE WELT VERÄNDERN gibt:

 

1. Macht-über:

- entsteht aus dem Bewußtsein, das ich als "Entfremdung" bezeichne: einer Auffassung, die die Welt als isolierten, leblosen Teilen zusammengesetzt betrachtet, die mechanisch aufeinander einwirken und nicht für das wertgeschätzt werden, was sie in ihrem Wesen nach sind, sondern nur in bezug auf irgend einen äußeren Maßstab. (S. 22)

bestimmt jede Institution unserer Gesellschaft. (S. 23)

 

2. Macht-von-innen:

- geht aus einem anderen Bewußtsein hervor, einem, das die Welt als Lebewesen ansieht, aus dynamischen Einzelteilen zusammengesetzt, eine Welt, in der die Dinge stets ihre Form verändern und sich zu anderen Dingen verwandeln,...

- In einer solchen Welt haben alle Dinge einen inhärenten Wert... (S. 29)

 

3. Gemeinsame Macht:

- verkörpert auch ein bestimmtes Bewußtsein, eine eigene Sprache und eigene Motivationen. Sie überbrückt die Wertsysteme von Macht-von-innen und Macht-über. Gemeinsame Macht sieht die Welt als ein Muster von Beziehungen, doch das, wofür sie sich am meisten interessiert, ist, wie das Muster geformt, gestaltet, verändert werden kann. (S. 30)

 

Bei Macht-von-innen regt sich in mir die Gestalt-Frau und bei gemeinsamer Macht zusätzlich noch meine Feministin.

Wie kamst Du vom Feminismus zur Gestalttherapie?

Maria: Im ersten Semester begann meine Beschäftigung mit dem psychoanalytischen Gedankengebäude. Ich besuchte ein Freud-Lektüre-Seminar. Bis auf mich und zwei andere befanden sich alle Teilnehmenden (fast nur Frauen) in psychoanalytischer Behandlung. In einer Seminarsitzung tauschten sie sich darüber aus, eine welch existentielle Bedrohung die Abwesenheit ihres Psychoanalytikers während seiner Urlaubszeit für sie bedeute, und eine junge Frau bemerkte: "Wenn mein Analytiker jetzt sterben würde, würde ich mir das Leben nehmen."

Ich folgerte daraus zweierlei: erstens, daß allem Anschein nach das psychoanalytische Setting für Frauen die Gefahr neuer Abhängigkeiten in sich birgt - was mich bewog, die Möglichkeit, mir in einer Psychoanalyse Unterstützung für meine Befreiung und Entfaltung als Frau zu suchen, als vorerst zu gefährlich auszuschließen; und zweitens: Offensichtlich haben Frauen ein eigenes Interesse daran, sich in Abhängigkeiten zu begeben, sie ziehen daraus einen Gewinn. Auch an mir fand ich - vor allem in Beziehungen zu Männern - Haltungen und Verhaltensweisen wieder, mit denen ich mich selbst in Unterordnung begab und meine Kraft und Lebendigkeit beschnitt.

Zusammen mit anderen Studentinnen gründete ich eine Frauenforschungsgruppe, um der Frage nachzugehen, wie Frauen, wie wir selbst, wie jede einzelne von uns, sich selbst in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einbaut und diese damit reproduziert. Wir schlossen uns der Sichtweise der Kritischen Psychologie an, wonach das Individuum nicht bloßes Objekt seiner "Sozialisation" ist, sondern Subjekt und Objekt seiner "Vergesellschaftung": Das Sich -Einrichten in bestehende Strukturen ist ein aktives, selbsttätiges Handeln und setzt überall dort Einwilligung voraus, wo nicht mit direktem Zwang gearbeitet wird. Für die Feministische Kritische Psychologie und unser Forschungsanliegen bedeutete das: Frauen finden die gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen und die Frauenverachtung zwar zunächst vor, bauen sich dann aber in ihren alltäglichen Lebensvollzügen tätig darin ein und reproduzieren die vorgefundenen Verhältnisse. Wir Frauen sind selbst und gerade da, wo wir unterdrückt werden, aktive Trägerinnen und Vermittlerinnen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nur die Voraussetzung, daß Frauen ihre eigenen Lebensbedingungen mitherstellen, läßt den Gedanken zu, daß sie diese auch verändern können.

Wir forschten mit der Methode der Kollektiven Erinnerungsarbeit, wie sie die Kritischen Psychologinnen um Frigga Haugg und Cornelia Hauser entwickelt hatten. Unsere zentralen Forschungsfragen lauteten: Wie und an welchen Stellen stimmen wir in unserem Alltag den Systemstrukturen zu, nehmen wir sie auf, arbeiten sie um, reproduzieren sie. Und welche Motive, Ängste, Wünsche, kurzfristigen Vorteile hindern uns tagtäglich daran, andere Verhältnisse herzustellen? Wie findet jede von uns ihren je eigenen Weg zwischen Widerstand und Anpassung hinein in diese Gesellschaft?

Wesentlich für mich und meinen Weg waren mir folgende Inhalte:

- Das Individuum findet die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar zunächst vor (und ist insofern Opfer), da es jedoch aktiv an deren alltäglicher Realisation und Reproduktion beteiligt ist, kann es sich auch aus Unterdrückungsverhältnissen befreien; und zwar durch Bewußtwerden der materiell-gesellschaftlichen Zusammenhänge und das Auffinden des "Wie" und "Wo" der Herstellung und Reproduktion von Lebensverhältnissen, die die eigene Unterdrückung, Einschränkung, Entfremdung bewirken (Begriff der "Selbstfeindschaft");

- Forschung ist Veränderung der eigenen Lebensbedingungen.

- Jede ist selbst die beste Expertin ihrer selbst und ihres Alltags.

- ForscherIn und sich erforschende Person haben das gemeinsame Interesse der Verfügungserweiterung über die eigenen Lebensverhältnisse.

- Menschliche Beziehungen sind von zentraler Bedeutung und müssen also im Forschungsprozeß berücksichtigt, erhalten und genutzt werden.

- Gesellschaft und Individuum stehen einander nicht als getrennte Entitäten gegenüber, sondern Individuelles und Gesellschaftliches durchdringen sich gegenseitig: Das Individuelle ist eine mögliche Besonderung und Ausdrucksform der gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren, Ort der Reproduktion und Veränderung.

- Das Kollektiv ermöglicht Erkenntnis und Veränderung.

Unser Forschungskollektiv wurde für mehrere Jahre für viele von uns eine wichtige Lebensbasis. Leider vermochten auch wir nicht, es über die Phase von Studienabschluß, beruflicher Orientierung und Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erhalten.

Hier aber hatte ich das erfahren, was Starhawk "gemeinsame Macht" nennt, die nicht "Macht-über" und auch nicht "Macht-gegen" ist. Mit dem Zusammenbruch der Gruppe ging auch die Hoffnung auf weitere Veränderung und Entwicklung im Kollektiv zu Ende. An diesem Punkt begegnete ich - zufällig ? - der Gestalttherapie und fand hier vieles wieder:

- die Frage nach dem "Wie" (des Erlebens im Hier-und-Jetzt) und die Frage nach dem "Wo" (im Kontaktzyklus) von Unterbrechung und Selbstbehinderung;

- der gestalttherapeutische Prozeß als kreativer Erforschungsweg hin zu größerer Freiheit, Lebendigkeit und Fülle.

- die persönliche Beteiligung der Therapeutin am Forschungs- und Veränderungsprozeß;

- die zentrale Rolle der zwischenmenschlichen Beziehung für eine Bewußtwerdung, Veränderung und Neudefinition.

- die Überzeugung und gelebte Praxis, daß jede Person in ihrer Einmaligkeit Expertin für sich selbst ist.

War die kollektive Erinnerungsarbeit eine Möglichkeit, die Orte und Weisen der Selbstentfremdung in den Erinnerungsgeschichten von Erlebtem aufzuspüren und im Kollektiv Veränderungsmöglichkeiten zu erfinden, so bietet die Gestalttherapie die Chance, das "Wie" im Augenblick zu bemerken und im Hier - und - Jetzt die Weisheit und Integrität des Körpers und der Bedürfnisse für das eigene Wachstum zu nutzen.

Wenn Frauen den Gestaltweg in diesem konsequenten Sinn gehen, dann ist das eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, es setzt eine Veränderung zugleich voraus und bewirkt sie.

Bernadette: Die Mailänder Frauen sprechen von "weiblicher Autorität", die notwendig ist für die Arbeit der Vermittlung. Ich sehe auf dem Gestaltweg mehr und mehr Frauen, die sich so frei gemacht haben, daß sie kooperieren und sich gegenseitig unterstützen können. ("Das Patriarchat... (S. 42): "Wir haben die Autorität als symbolische Qualität der Beziehungen, als "Figur des Austausches" entdeckt. Das heißt, niemand ist "die Autorität"; denn Autorität zeigt sich in der dynamischen Zunahme der vermittelnden Beziehungen."

In der Gestaltarbeit gibt es für mich ein Pendant zur vermittelnden Verhandlung der weiblichen Autorität: bei Polaritäten den Weg aus dem Entweder-oder zum Sowohl-als-auch und letztlich zum UND zu finden.

Damit komme ich zu Paradigma-Wechseln: Ich habe zuerst linear-kausales, zergliederndes Denken gelernt, zu Hause und in der Schule, als junge Frau habe ich mich in's dialektische Denken hinein bewegt. Auf dem Gestaltweg fand ich selbstreflexives, zirkuläres und vernetztes Denken.

Maria: Wie haben sich diese Wechsel ereignet?

Bernadette: Mit sechzehn habe ich Kierkegaard gelesen, und das führte mich zu Hegel. Für mich machte die dialektische Bewegung Sinn: von einer These zur Antithese und dann zur Synthese und wieder zu einer neuen These usw. Aber Hegel machte mich auch unglaublich wütend mit seiner Vergötterung des Staates. Ich war 15 Jahre bei Kriegsende, nach 5 Jahren Bombennächten in meiner Geburtsstadt Köln waren mir sowohl Staat als auch Krieg verhaßt. Ich fand dann Carl Poppers "Open Society and its Enemies" sehr wohltuend. Acht Jahre später im Libanon begegnete ich der Idee von kreisförmiger Bewegung in Toynbee's "Philosophy of History".

Dann war ich viele Jahre mit Überleben beschäftigt durch den frühen Unfalltod meines Mannes und die alleinige Verantwortung für fünf Kinder.

Doch kaum lernt ich in der Theorie des Selbst (PHG usw.) den Kontakt-Zyklus kennen, da fiel das bei mir auf reifen Boden. Und langsam übte und übe ich mich im Kreisen und Ruhen und wieder kreisen, und mein Leben hier draußen in der Verbundenheit zur Natur hilft dabei.

Reinhard Fuhr und Martina Gremmler-Fuhr schreiben: "Wir gewinnen dadurch an Freiheit, verlieren allerdings auch die meisten unserer alten Sicherheiten und Privilegien." (GESTALT-ANSATZ EHP S. 17)

Ganzheitliches Denken, zirkulär und vernetzt, bezieht nach Figur/Grund und Organismus/Umwelt-Interaktion das umliegende Feld und immer weitere Felder in immer weiteren Kreisen ein: das ist für mich politisch. Die Mailänder Feministinnen gelangen auf anderen Wegen zu der Aussage "Politik ist zirkulär". Und sprechen statt von Konflikt-Lösungen vom Zirkulieren im Konflikt, und so will ich politisch sein.

Ich finde es oft schwierig, von Zielgerichtetheit und Suche nach Lösungen abzulassen, aber ich habe dreißig Jahre lang im monatlichen Zyklus der Reinigung und des Loslassens gelebt, und daran erinnere ich mich, wenn ich mich wieder einmal festbeiße.

Und nun der langen Rede kurzer Sinn: Ich glaube, daß Gestaltdenken und Gestalthaltung die Bildung und Entwicklung von weiblicher Autorität fördern und bestärken.

Maria: Ja, denn sie führt zu einem Bezugspunkt, einem Maßstab für weibliche Autorität: das eigene, sinnlich-leiblich-geistige Erleben. Die Gestalthaltung gibt der weiblichen Erfahrung ihren Eigen-Wert und Eigen-Sinn zurück und damit die Möglichkeit, daß weibliche Erfahrung zur Autorität wird.

Erfahrung ist das Kernstück der Gestalttheorie/therapie und zugleich Ausgangs- und Endpunkt aller Überlegungen, das, worauf sich alle Begriffe und Konzepte beziehen. Die Gestalttheorie und -therapie lädt mich ein und gibt mir den Freiraum, meine Erfahrung ernst zu nehmen und zum Ausdruck zu bringen.

Sie macht keine inhaltlichen Aussagen über menschliches Erleben, sie deutet und bewertet es nicht. Sie beschreibt vielmehr die Struktur, den Prozeßverlauf, das "Wie" der menschlichen Erfahrung. Sie liefert eine Art Mikroskop, das es ermöglicht, das eigene Erleben in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu nehmen, dessen Struktur zu erkennen, einzelne Voraussetzungen und Bestandteile auszumachen (z.B. Kontaktfunktionen, Kontaktphasen, Figur - Grund - Dynamik, Gestaltbildungsprozeß). Welcher gestalttheoretischen Konzepte ich mich auch immer bediene, sie verweisen mich auf mein eigenes Erleben, auf den Prozeß und die Art und Weise meines In - Kontakt - Seins. Letzte Autorität ist meine eigene Erfahrung. Damit ist die Gestalttheorie und -therapie an sich widerständig gegen Herrschaft und Machtmißbrauch.

Bernadette: Ich habe in meinem Leben und in meiner Arbeit sehr viele verschiedene Frauen kennengelernt, Frauen jeden Alters, Hausfrauen, Gesellschaftsdamen, Landfrauen in Großfamilien, Frauen, die ehrenamtliche Arbeit tun in Krankenhäusern, in der Hospiz-Bewegung, in kirchlichen Institutionen, Frauen, die beruflich arbeiten in der Psychiatrie, in Pflegediensten, in den sozialen Diensten, Frauen, die sich engagieren mit Frauen, die Gewalt erlitten haben und mit mißbrauchten Frauen und Jugendlichen und Kindern, Frauen als Unternehmerinnen, Juristinnen, Ingenieurinnen, Ärztinnen, Psychologinnen, Pädagoginnen, Therapeutinnen, Lehrende in den verschiedensten Feldern. Ich könnte diese Liste von Frauen, die zivilisatorische Arbeit tun, mehr denn je, beliebig fortsetzen. Diese gesellschaftlich relevante und damit politische Arbeit wird nicht als solche gewürdigt. Heute können wir Frauen aus unserer weiblichen Autoriät heraus uns selbst und andere Frauen anerkennen, uns gegenseitig unterstützen, unseren weiblichen Stil zu fördern, eine uns gemäße Sprache zu entwickeln, und wir können uns bewußt sein, daß wir bis ins hohe Alter stets weiter lernen können.

Maria: In diesem Sommer besuchte ich für vier Wochen eine Freundin, die auf einer Bergalm lebt und wirtschaftet. Nach einer dreimonatigen Dürre im Winter hatte es dort mehrere Wochen lang ungewöhnlich viel geregnet. Die Erde war bereits schwer und naß, und es schüttete weiter. Eines Nachts gesellte sich zu dem Dauerregen ein heftiges Gewitter. Ein tiefes Grollen lag in der Luft. Wir wußten dieses Geräusch, das minutenlang anhielt, erst nicht zu deuten - bis die erste Frana, der erste Erdrutsch, am Hang rechts neben uns mit lautem Getöse niederging. Neues Erdgrollen kündigte weitere Erdrutsche an. Stundenlang noch bewegte sich der Berg. Bis zum See hinunter war die Luft in dieser Nacht von Erde getränkt.

Was wir am Morgen erblickten, sprengte alles, was wir erwartet hatten. Nichts war mehr wie vorher. Der Berg lag aufgebrochen da und bot uns einen Anblick, daß wir unseren Augen nicht glauben wollten. Tagelang liefen wir wie in eingefrorenem Entsetzen über den Berg, um die Ziegen zu versorgen und die nötigste Arbeit zu tun. Für die Nacht stiegen wir nun immer ins Dorf hinab, da es noch immer regnete und weitere Erdrutsche nicht ausgeschlossen werden konnten. Nur langsam legte sich die Katastrophenstimmung und bildetete sich rund um die Wunden und Trümmer der Verwüstung zaghaft ein neuer Alltag.

Das Interessante an dieser Erfahrung und der Grund, warum ich hier davon berichte, ist folgendes Erleben, das meine Freundin und ich teilten und mit gegenseitiger Unterstützung in Worte faßten: Tagelang bewegten wir uns wie taub und in Trance. Wir konnten weder weinen, noch uns übergeben - auch wenn uns nach beidem zumute war und wir es als eine Befreiung und angemessene Lebensäußerung empfunden hätten. Obwohl uns das Desaster deutlich vor Augen lag und wir uns untereinander und in vielen Gesprächen mit den Leuten des Dorfes der Realität des Ereignisses und der unwiderruflichen Veränderung vergewissern konnten, hatte unsere Befindlichkeit etwas Unwirkliches. Mehrere Tage weigerten wir uns oder waren unfähig, die Realiät als solche anzuerkennen. Wir befanden und bewegten uns noch immer auf dem Berg, wie er vorher war und wie wir ihn wiederzufinden hofften. Diese Spaltung, einerseits mit dem Offensichtlichen umzugehen, irgendwie in der neuen Situation uns zu - rechtzufinden, zu funktionieren, und andererseits immer noch von anderen Verhältnissen auszugehen, erschöpfte und lähmte uns. Uns an die Aufräumungs- und Wiederinstandsetzungsarbeiten zu machen, schien unsere Kräfte zu übersteigen. Tief innerlich fanden wir in uns eine Mutlosigkeit und Unmöglichkeit, auf diese Umgebung einen Einfluß haben, sie gestalten zu können. Wir befanden uns in einem wirkungslosen Zwischenraum zwischen einer nicht(mehr)wirklichen Realität, und einer Realität, die als solche gelten zu lassen unsere psychischen Kräfte noch überstieg. Unsere Tage, unser Tun, unser Denken fühlten sich unwirklich und beliebig an, wir empfanden uns und unsere Weltbezüge als leer und irreal. Im Nachhinein hatte ich das Gefühl, tagelang an mir selbst vorbeigelaufen zu sein.

Was es uns ermöglichte, diese Starre zu verlassen und wieder handlungsfähig zu werden, war, gemeinsam Worte für das Geschehene und unsere Befindlichkeit zu finden, es symbolisch zum Ausdruck zu bringen, einander und gegenüber Dritten, die nach der Katastrophe hinzugekommen waren und unsere Wahrnehmung bestätigten: Ja, es ist schrecklich.

Diese unsere Befindlichkeit erinnerte uns an das Lebensgefühl, wie viele Mädchen und Frauen, denen existenzbedrohliche Gewalt widerfahren ist, es - mit unterschiedlichen Worten und in vielen verschiedenen Nuancen - etwa folgendermaßen beschreiben: Ich fühle mich unwert und unwirklich. Ich sehe keine Möglichkeit, auf mein Leben Einfluß zu nehmen. Mein Handeln und mein Denken sind bedeutungs- und wirkungslos. Irgendwie gibt es mich gar nicht. Ich stehe außerhalb der Welt, ohne wirkliche Verbindung zu dem, was mich umgibt, und zu anderen Menschen. Alles ist unwirklich, eigentlich ist alles ganz anders. Ich bin wie durch einen Nebel, eine Glasglocke von allem getrennt. Ich befinde mich anderswo und kann doch nicht entkommen. Es ist alles egal. Nichts ist wichtig.

Wieviel Wirkmächtigkeit, Lebendigkeit und Schöpfungskraft von Frauen wird hier gelähmt! Und was steht uns offen, wenn wir uns dies wieder zu eigen machen.

Ein Schwerpunkt meiner professionellen Arbeit liegt in der Begleitung von Mädchen und jungen Frauen, die sexuell mißbraucht wurden. In einem kommunalen Mädchenprojekt bieten wir, meine Kolleginnen und ich, Selbsthilfegruppen an, die wir, sofern und solange dies dem Wunsch der Mädchen bzw. jungen Frauen entspricht, anleiten. Wir möchten einen Raum bereiten, wo Mädchen und junge Frauen gemeinsam ihre Überlebensfähigkeit erkennen und stärken, ihr Selbsthilfe- und Selbstheilungspotential auffinden und entwickeln und miteinander die durch den sexuellen Mißbrauch entstandene Vereinzelung und Isolation aufheben können. Für das eigene Erleben und die eigene Befindlichkeit einen Ausdruck - verbal oder nonverbal - zu finden, zeigt sich als ein wesentliches Element zur Befreiung von den Folgen des Mißbrauchs. Diese Arbeit liegt mir sehr am Herzen. Zu sehen, wie viel Kraft und Schönheit entsteht, wenn Frauen sich und ihr Erleben zum Ausdruck bringen, welch eine mächtige Lebens- und Heilungskraft Frauen in sich finden, das beglückt mich immer wieder.

Bernadette und Maria: Wir haben uns gegenseitig eingeladen, miteinander einen roten Faden zum Thema Gestalttherapie und Feminismus zu spinnen. Daß es ein Abenteuer sein würde, ein riskantes Abenteuer, uns auf diesen gemeinsamen Prozeß einzulassen, war jeder von uns klar. Beide brauchten wir Mut, den Schritt zu wagen. Beide waren wir unsicher, aufgeregt... und neugierig. Wir sind zwei sehr unterschiedliche Frauen - unterschiedlich im Alter, in unserer Herkunft und Geschichte. Gemeinsam stießen wir auch auf so manche Grenze unserer Möglichkeiten, uns mitzuteilen und auszutauschen. Diese Grenzen wahrzunehmen und zu erleben, war manchmal schmerzlich. Die Erfahrung, dennoch in die Begegnung zurückzukehren, beglückend.

Unser roter Faden wechselte zwischendurch die Farbe, und mittlerweile ist ein kleiner Webteppich daraus geworden. Nein, keine zierliche Handarbeit zur Zerstreuung der weiblichen Langeweile, sondern hartes Ringen um Worte, schmerzliche Rückkehr in die eigene Geschichte, leidenschaftliche Erkenntnisfreude, Schwelgen in sinnlichen Genüssen, vorzüglichem Essen und gutem Wein, in Blumendüften und atemberaubender Natur....

Wir möchten andere Frauen anregen und einladen, mitzuspinnen, mitzuweben. 

 Praxisadressen von Gestalttherapeuten/-innen

 Die Autorinnen:

Bernadette Valentin-Mousli

begann ihre Gestalt-Ausbildung 1975 im GTS - Ischa Bloomberg

(4 Jahre) und zusätzlich bei Erving und Miriam Polster. Seit 1984 arbeitet sie als Ausbilderin im "Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg" (IGW).

1982 hat sie die Großtadt verlassen und ein Gruppenhaus in der Elbmarsch gegründet, mit einem Anbau zum Wohnen.

Sie hat sich für die Gründung der "Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie" (DVG) eingesetzt; seit drei Jahren leitet sie dort die Ethik- und Schlichtungskommssion. Sie ist persönliches Mitglied der "Europäischen Vereinigung für Gestalttherapie" (EAGT) und in FORGE, einem internationalen Forum aus Gestalt-Ausbilder/innen.

Sie arbeitet auch mit 68 Jahren gerne, als Frau gilt ihr besonderes Interesse weiblicher Freiheit und Autorität, Öffnungen zu weiblicher Spiritualität und der wachsenden Kultur der Dankbarkeit unter Frauen.

 

Maria Flaig

Psychologiestudium in München und Montpellier/Südfrankreich. Gestalttherapie-Ausbildung am IGW (Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg).

Diplomarbeit über die Mutter-Tochter-Beziehung: "Zerstörung und Kraft zwischen Mutter und Tochter - Über Herstellung und Tradierung von Weiblichkeit im bestehenden Geschlechterverhältnis".

Maria Flaig arbeitet als Psychotherapeutin in freier Praxis und als Fortbildungsreferentin, Fachberaterin und Supervisorin in den Bereichen Mädchen- und Frauenarbeit, Prävention von sexuellem Mißbrauch, Begleitung und Therapie von Opfern sexuellen Mißbrauchs. Sie ist Mitarbeiterin des Projekts "Selbsthilfegruppen für Mädchen und junge Frauen, die sexuell mißbraucht wurden", IMMA e.V. und arbeitet an dem Aufbau eines intensivsozialtherapeutischen Projekts für psychiatrieerfahrene Frauen in den Bergen über dem Comer See.

 

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